Brahms in Ziegelhausen
Vom 20. Mai bis Mitte September 1875 weilte Johannes Brahms in Ziegelhausen. „Ich wohne und lebe allerliebst, letzteres nur gar zu sehr“ – so wohl fühlte sich Brahms hier bei uns in Ziegelhausen. Bekanntlich wohnte er im Hause des Malers und Kammersängers Anton Hanno und seiner Frau, das der katholischen Laurentiuskirche östlich benachbart stand. Zum 50-jährigen Jubiläum des Aufenthaltes 1925 wurde das Haus – leider nicht zum Museum gestaltet, sondern abgerissen. Die Tochter Hannos hatte noch alle Möbel der Brahmsstube an ihrer Stelle stehen lassen, auch das Tafelklavier war dabei. Leider kam es dann aber zu einem Besitzerwechsel. Das Haus stand weiter zurück als das heutige und davor lag ein schöner, ruhiger Garten mit altem Baumbestand. Dort traf man ihn „hemdärmelig, im leichtesten Gewand, auf einer Lattenbank sitzend, von einem dutzend schöner Tauben umschwärmt“ an.

Johannes Brahms (* 7. Mai 1833 in Hamburg; † 3. April 1897 in Wien) gilt als einer der bedeutendsten deutschen Komponisten. Er ist ein Vertreter der Hochromantik. Ziegelhausen hatte er als Sommeraufenthalt ausgewählt, weil er auf seinen ausgedehnten Waldspaziergängen die besten Ideen für seine Kompositionen hatte. Eltville war auch in der engeren Wahl, aber: „Ich fürchte nur, wo der Wein so gut wird, entbehrt der Mensch des Schattens und erinnere nicht, daß hinter Eltville bald ein Wald sich findet.“ Außerdem war Heidelberg schnell zu erreichen, wo sich im Musiksalon von Henriette Feuerbach viele Künstler trafen und wo der Klavierbauer Johann Baptist Trau Klavierabende veranstaltete. Auch in die Oper im Nationaltheater in Mannheim ging er. In Ziegelhausen besuchten ihn zahlreiche seiner Freunde und Bekannten. „Heute waren Levi [Hofkapellmeister Mannheim, Karlsruhe, München] und Dessoff [Hofkapellmeister Karlsruhe] da, den Abend kommt Frank [Hofkapellmeister Mannheim], morgen zwei allerliebste Sängerinnen aus Mannheim – kurz es wird nur zu lustig gelebt.“ (aus einem Brief)
An welchen Kompositionen arbeitete Brahms in Ziegelhausen? An folgenden:
Streichquartett
Das Streichquartett Nr. 3 B-Dur op. 67 könnte man als Ziegelhäuser Quartett bezeichnen. Er hat es hier komponiert. Es besteht aus den vier Sätzen
Vivace
Andante
Agitato, Allegretto non troppo
Poco allegretto con variazioni

In der Widmung an seinen Freund, den Arzt und Chellisten (!) Theodor Wilhelm Engelmann schreibt er: „Ich gebe ein Streichquartett heraus u. brauche vielleicht einen Mediziner dazu (wie zu dem ersten). Dieses 4tett nun sieht etwas Ihrer Frau ähnlich—sehr niedlich—aber genial! … Es handelt sich um keine Zangengeburt mehr; sondern nur um das Dabeistehen. Violoncello-Solo kommt nicht vor, aber ein so zärtliches Bratschensolo, daß Sie dem zu Gefallen noch das Instrument wechseln!“
Die „Zangengeburt“ bezieht sich auf das mühsame Entstehen seiner beiden ersten Streichquartette, denen gegenüber das dritte ihm eher mit Leichtigkeit gelang, und auf mehr als 20 Streichquartette, die Brahms bis dahin komponiert und wieder vernichtet hatte. Diese anspruchsvolle Arbeitsweise war typisch für Brahms. Erhalten hat er uns nur seine besten Kompositionen.
Vor der Uraufführung spielte das Joachim-Quartett das Werk im Berliner Haus von Clara Schumann. Der Geiger Joseph Joachim urteilte darauf: „Du hast wohl selber kaum schönere Kammermusik geschaffen als im d-Moll [dritten] Satz und im Finale, das erstere voll zauberischer Romantik, das letzte voll Innigkeit und Anmut bei aller kunstreichen Form. Doch auch der originelle erste Satz und das knappe, so schön austönende Andante sollen nicht zurück gesetzt werden!“
Im lebhaften, heiteren Hauptthema des ersten Satzes vermutet der Musikwissenschaftler und Brahms-Biograf Karl Laux Ziegelhäuser Lokalkolorit und meint, die Sommersonne, die Landschaft im Neckartal und das regionale, badische Volksliedgut scheinen sich hier, wie auch in den während des Sommers 1875 komponierten Liedern, niederzuschlagen.
Den dritten Satz hielt Brahms für das „Verliebteste, Zärtlichste“, was er je geschrieben hatte.
Streichquartett Nr. 3 B-Dur op. 67 (35:20 Min.) – SWR 2 (externer Link)
Kuss Quartett – 2009
Abendregen
Ausdrucksstark ist das Lied Abendregen aus Vier Gesänge Op. 70 nach einem Gedicht von Gottfried Keller:
Abendregen – Vier Gesänge Op. 70, Nr. 4 (ext. Link, Youtube, 5:38 Min.)
Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton • Daniel Barenboim, Klavier – 1983
Abendregen
Langsam und schimmernd fiel ein Regen,
In den die Abendsonne schien;
Der Wandrer schritt auf engen Wegen
Mit düstrer Seele drunter hin.
Liedtext weiterlesen
Er sah die großen Tropfen blinken
Im Fallen durch den goldnen Strahl;
Er fühlt‘ es kühl aufs Haupt ihm sinken
Und sprach mit schauernd süßer Qual:
Nun weiß ich, daß ein Regenbogen
Sich hoch um meine Stirne zieht,
Den auf dem Pfad, den ich gezogen,
Die heitre Ferne spielen sieht.
Und die mir hier am nächsten stehen,
Und wer mich scharf zu kennen meint,
Sie können selber doch nicht sehen,
Wie er versöhnend ob mir scheint.
So wird, wenn andre Tage kommen,
Die sonnig auf dies Heute sehn,
Ob meinem fernen, bleichen Namen
Der Ehre Regenbogen stehn.
Drei Duette für Alt und Sopran
Drei der fünf Duette Op. 66 für Alt und Sopran entstanden ebenfalls in Ziegelhausen: Am Strande, Jägerlied und Hüt du dich! Von „Am Strande“ ist der Autograph, das in Ziegelhausen geschriebene Orginal, erhalten: Link zum Brahmsinstitut Lübeck.

Unter dem Lied steht folgende Widmung:
Ziegelhausen / Juni 75
Herrn F. Wichgraf / zu freundl. Erinnern / J. Brahms
Der Liedtext stammt von Hermann Hölty:
Es sprechen und blicken die Wellen
Mit sanfter Stimme,
Mit freundlichem Blick,
Und wiegen die träumende Seele
In ferne Tage zurück.
Aus fernen, verklungenen Tagen
Spricht’s heimlich
Mit sanften Stimmen zu mir.
Schaut’s heimlich
Mit freundlichen Blicken
Zum Wandrer am Strande hier.
Mir ist, als hätten die Stimmen
Die je die Seele
Mir sanft bewegt
Und alle die freundlichen Blicke
Sich in die Wellen gelegt.
Das Spiel der Wellen ist auf dem Klavier sehr schön gelungen der Natur nachempfunden.
Fünf Duette für Sopran und Alt mit Klavier Opus 66 (ext. Link, Youtube,10:20 Min.)
Edith Mathis, Sopran • Brigitte Fassbaender, Alt • Karl Engel, Klavier – 1983
Texte zu Jägerlied und Hüt du dich!
Jägerlied
Jäger, was jagst du die Häselein?
Häselein jag’ ich, das muß so sein.
Jäger, was steht dir im Auge dein?
Tränen wohl sind es, das muß so sein.
Jäger, was hast du im Herzelein?
Liebe und Leiden, das muß so sein.
Jäger, wann holst du dein Liebchen heim?
Nimmer, ach nimmer, das muß so sein.
Karl August Candidus (1817 – 1872)
Hüt du dich!
(aus Des Knaben Wunderhorn)
Ich weiß ein Mäd’lein hübsch und fein,
hüt du dich!
Es kann wohl falsch und freundlich sein,
hüt du dich!
Vertrau ihr nicht, sie narret dich!
Sie hat zwei Äuglein, die sind braun,
hüt du dich!
Sie werden dich verliebt anschaun,
hüt du dich!
Vertrau ihr nicht, sie narret dich!
Sie hat ein licht goldfarb’nes Haar,
hüt du dich!
Und was sie red’t, das ist nicht wahr,
hüt du dich!
Vertrau ihr nicht, sie narret dich!
Sie hat zwei Brüstlein, die sind weiß,
hüt du dich!
Sie legt’s hervor mit allem Fleiß,
hüt du dich!
Vetrau ihr nicht, sie narret dich!
Sie gibt dir’n Kränzlein fein gemacht,
hüt du dich!
Für einen Narr’n wirst du gemacht,
hüt du dich!
Vetrau ihr nicht, sie narret dich!
1. Sinfonie
Brahms arbeitete in Ziegelhausen außerdem an seiner 1. Sinfonie, für die er Jahre brauchte.
Klavierquartett in c-Moll
Das Klavierquartett Nr. 3 c-Moll Op. 60, komponiert 1855/56, 1869 und 1873 bis 1875, vollendete er im Juli 1875 in Ziegelhausen
Klavierquartett Nr. 3 c-Moll Op. 60 (ext. Link, Youtube, 36:17 Min.)
The Center Piano Quartet – Caitlin Whitehouse, violin • Emily Williams, viola • Ilia De la Rosa, cello • Jiří Levíček, piano, University of North Texas 2011
Neue Liebeslieder, Walzer, für Klavier zu vier Händen
Zu Neue Liebeslieder, Walzer (Op. 65, komponiert 1874), schuf er in Ziegelhausen eine neue Fassung für Klavier zu vier Händen ohne Gesang, Op. 65a
Fassung für Klavier zu vier Händen ohne Gesang, Op. 65a (ext. Link, Youtube, 17:15 Min.)
Inger Södergren und Fernanda Soares, Klavier – 2011
Ständchen
Ein Lied, mit dem sich eine besondere Geschichte verbindet1, ist das Ständchen (Der Mond steht über dem Berge), Op. 106 Nr. 1, für Singstimme und Klavier
Der Mond steht über dem Berge (ext. Link, Youtube, 1:43 Min.)
Hermann Prey, Bariton • Leonard Hokanson, Klavier – 1974
Liedtext
Der Mond steht über dem Berge,
So recht für verliebte Leut‘;
Im Garten rieselt ein Brunnen,
Sonst Stille weit und breit.
Neben der Mauer im Schatten,
Da stehn der Studenten drei,
Mit Flöt‘ und Geig‘ und Zither,
Und singen und spielen dabei.
Die Klänge schleichen der Schönsten
Sacht in den Traum hinein,
sie schaut den blonden Geliebten
und lispelt: »Vergiß nicht mein!«
Franz Theodor Kugler (1808-1858)
Typisch Brahms
„Geht es Ihrem Herrn Vater nun, wie ich hoffe, gut, so sollten Sie sich doch wieder ein Stück Welt ansehen – ich meine natürlich das Stück, auf dem Ziegelhausen steht! Wohnen könnten Sie behaglich, und bei den Menschen hier war es Ihnen ja schon einmal ganz wohl.“
„Es ist ganz angenehm hier und in der Nähe, soweit man zu Fuß kommt…“

„Es gehörte zu den liebenswürdigsten Eigenschaften seines Wesens, daß er, wo er auch weilte, die Kinder an sich zu fesseln wußte. Er trug immer harmlose Süßigkeiten in seiner Tasche, die er an die ilebe Jugend verteilte, mit der er dann auch allerlei Späße trieb und lustige Gespräche führte.“ (der Karlsruher Gymnasiallehrer Gustav Wendt nach einem Besuch bei Brahms in Ziegelhausen)2
Brahms freute sich, wenn ihn Kinder auf seinen Wanderungen zum Beispiel durch die Bärenbach begleiteten. „Wo er sich zeigte, liefen ihm die Barfüßle nach; sie ließen selbst ihre Spiele und heischten zutraulich von ihrem großen Freunde die gewohnten Gaben, süße Mandeln und Chokoladenbohnen, die er mit Scherz und Lachen verteilte.” (Adolf Koch 1902 über Brahms in Ziegelhausen)
„Sie wissen gar nicht, was Sie versäumen, wenn Sie nicht früh um fünf Uhr in den Wald gehen.“ – Brahms war Frühaufsteher. Ein Kaffee war ihm morgens wichtig, vor und nach seinem ausgedehnten Spaziergang. Oft ist er schon vor 6 Uhr mit der Fähre nach Schlierbach gefahren und nahm ihn in der Pension Völcker ein. Manchmal drehte er dort selbst die Kaffemühle und die Wirtin las ihm Gedichte von Karl Gottfried Nadler in Heidelberger Mundart vor. Den zweiten Kaffee trank er daheim, zusammen mit einem Käsebrot und wohl einer guten Zigarre, die er sehr schätzte, bevor er sich dann in den nächsten Stunden an die Arbeit setzte. Zum Mittagessen kehrte er gern im Gasthaus zum Schwarzen Adler in Ziegelhausen ein. Einmal bedankte er sich bei der Köchin Berta mit einem Klavierstück für die guten Pfannenkuchen. „Un wenn er gspielt hot, hot ma kåå Händ gsehe“, meinte sie bewundernd. (nach Adolf Koch 1902 und Karl Eberts 1916)
Zum Weiterlesen
Das „Standardwerk“ zu Brahms in Ziegelhausen:
Harald Pfeiffer, Johannes Brahms in Heidelberg und Ziegelhausen, 2008
Es ist leider im Buchhandel nicht mehr erhältlich, aber in der Stadt- und der Universitäts-Bibliothek auszuleihen. Antiquarisch sind nur noch sehr wenige Exemplare im Umlauf, am besten zu erschließen durch die Antiquariats-Metasuchmaschine Eurobuch www.eurobuch.com