Ein Tornado in Ziegelhausen

Dienstag, 23. Juli 1996 abends, der Wind rauscht ungewohnt und eigenartig. Ich habe den Eindruck, er nimmt schnell zu und ich muß möglichst rasch alle Fenster schließen. Ich renne also durchs Haus und den Wintergarten und mache alle Fenster fest zu. Wenige Minuten später, etwa um acht Uhr, geht es tatsächlich heftig los. Draußen im Garten ist alles waagrecht, alle Äste und Sträucher. Am Fenster peitscht das Wasser waagrecht entlang. So etwas habe ich noch nicht erlebt. Nach einigen Minuten ist wieder Schluß. Als ich später am Abend hinaus auf den Balkon trete, hat sich der Wind ganz gelegt, die Ruhe nach dem Sturm. Die Luft riecht ganz intensiv nach Holz. Mit Einbruch der Dunkelheit fliegt ein Hubschrauber und leuchtet von Süden nach Norden am Waldrand entlang.

Ein Tiefdruckgebiet lag über der niederländischen Nordseeküste. Die Kaltfront erstreckte sich von Nord nach Süd und wanderte ostwärts. Ungefähr 350 km vor der Kaltfront verlief eine starke Konvergenzlinie von Norddeutschland Richtung Alpen. An Konvergenzlinien strömt die Luft zusammen. An besprochener Konvergenzlinie kam es zu starker Konvektion, das heißt die Luft steigt auf und sinkt seitlich wieder ab. Diese Konvektionen waren wesentlich stärker als die an der Kaltfront. In den Niederlanden kam es zu einem schwachen Tornado. Um 19 Uhr MESZ bildete sich über dem Pfälzer Wald ein linienförmiger Gewitterkomplex und trat in die flache Oberrheinebene ein. Ungefähr eine Stunde später setzte der Tornado im Odenwald in Ziegelhausen auf dem Boden auf.

Auf dem Weg vom Pfälzer Wald über die Rheinebene verstärkte sich eine Cumulonimbus-Zelle (Gewitterzelle). Um 19 Uhr befand sie sich noch im Pfälzer Wald, um 20 Uhr traf sie als Mini-Superzelle auf den Odenwald. Mini-Superzellen sind rotierende Cumulonimbus-Zellen mit geringer vertikaler Ausdehnung und daher weniger von Gewittern oder Hagel begleitet, aber sie können Tornados produzieren. Der Tornado entwickelte sich zwischen 19.58 und 20.08 (im zehnminütigen Raster der Radaraufnahmen) daraus, bevor er wieder zusammenfiel. Der Sturm der Cumulonimbus-Zelle zog in Richtung Ost über die Rheinebene. Nach Auftreffen auf die Odenwaldberge wurde er etwas Richtung Norden umgelenkt. Er folgte ungefähr dem Verlauf des Neckartals. Der Tornado entwickelte sich links, also nördlich, vom Muttersturm.

Die Situation nach dem Tornado am Ende der Straße Neue Stücker (© Tobias Städtler Naturfotografie, Scan vom Dia)

Der Luftwirbel setzte kurz nach 20 Uhr auf, brach Bäume auf halber Höhe ab und entwurzelte Bäume, auch starke Buchen und Fichten. Nach eigener Beobachtung war in einem Streifen von etwa einem Kilometer Länge und 300 Meter Breite in nordwest-südöstlicher Richtung an den Steinbachhalden, dem Südwesthang des vorderen Kreuzgrundes bis ins Steinbachtal, bis auf wenige einzelne der größte Teil der Bäume zerstört. Auch außerhalb dieser Fläche waren starke Schäden an einem größeren Teil der Bäume zu beobachten. Nach Informationen des Forstamtes betrug die Länge der Zerstörungsspur 5 km. Auf der gegenüberliegenden Seite des Steinbachtals traf der Tornado nach dessen Überquerung auf dem Kirchenberg wieder auf den Boden und riß auf dessen Höhe ebenfalls eine sichtbare Schneise in den Baumbestand. Der Vorgang dauerte etwa fünf Minuten. Der Sturm war von sehr starken Niederschlägen begleitet. Ein Gewitter gab es von mir wahrnehmbar nicht. Nach den Schäden im Wald zu urteilen hatte der Tornado die Stärke T4 (Torro) bzw. F2 (Fujita). Das entspricht Windgeschwindigkeiten von 184-220 km/h.

Auf das letzte Haus oberhalb der Straße Neue Stücker am Waldrand stürzte ein mächtiger Baum und zerstörte den Dachstuhl. Auf dem Kreuzgrundweg war gerade ein Pkw unterwegs und wurde von umstürzenden Bäumen getroffen. Von den beiden Insassen wurde die Frau schwer verletzt. Trotzdem konnten beide zum Peterhof gelangen und von dort Hilfe anfordern. Da die Straßen und Wege im Kreuzgrund unpassierbar waren, kam ein Rettungshubschrauber. Es war der, den ich auf dem Weg dorthin am Waldrand entlang leuchten sah. Sonst blieben wohl Menschen und Häuser verschont. Der Tornado zog über bewaldetes Gebiet und überquerte das bebaute Steinbachtal ohne Bodenberührung.

Der Tornado bildete sich wohl durch verstärkende Effekte aufgrund der lokalen Geländeformen aus einer Gewitterzelle, die sich ansonsten möglicherweise nicht zu einem Tornado entwickelt hätte. Im Vorfeld wurde die Tornadogefahr nicht erkannt und es gab keine Warnung.

Aktuelle Aufnahme des 24 Jahre alten Birkenmischwaldes (© T. Städtler)

Nach dem Tornado wurde nur grob aufgeräumt und danach die Schadensfläche sich selbst überlassen. Auch heute sieht man in ihrem Areal noch zahlreiche ausgerissene Wurzelteller. Zunächst siedelten sich vor allem Hasel, Holunder und Birken an. Heute, nach 24 Jahren, sind die Haselsträucher unter der höher gewachsenen Vegetation weitgehend verschwunden. Holunder sind stellenweise noch vorhanden. Die Birken dominieren heute die Flächen intensiven Schadens und mehr und mehr setzen sich auch andere Baumarten durch. Ein halbhoher Wald ist wieder herangewachsen.

Tobias Städtler 21. Juni 2020 ©

Die fachlichen Informationen sind folgender Publikation entnommen:

  • Ronald Hannesen, Nikolai Dotzek und Jan Handwerker, Radar analysis of a tornado over hilly terrain on 23 July 1996, in: Physics and Chemistry of the Earth, Part B: Hydrology, Oceans and Atmosphere, Volume 25, Issues 10–12, 2000, S. 1079-1084