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Ziegelhausen, Brahms, die Oper und zwei Sängerfreundinnen

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Julius Allgeyer, Johannes Brahms und Hermann Levi (v. l.) in Karlsruhe, etwa 1869


Eine Oper von Brahms? …fragen Sie sich vielleicht – die kenne ich nicht. Brahms hat auch keine Oper geschrieben. Aber er hatte es vor. Zunächst schien El secreto a voces, Das offene Geheimnis, des spanischen Dichters Pedro Calderón de la Barca (1600 – 1681) eine geeignetes Thema zu sein. 1869 bat Brahms in Karlsruhe den eng befreundeten Fotografen und Kupferstecher Julius Allgeyer, die Übersetzung des Werkes zu einen Opernlibretto umzugestalten. Allgeyer schuf das Libretto, Brahms dennoch keine Oper. 1871 erhielt er aus seinem Freundeskreis zwei Operntextentwürfe, von der Karlsruher Schriftstellerin Anna Ettlinger zur Sage der Melusine und nach dessen Ablehnung vom Karlsruher Pfarrer Emil Zittel, einem Vertreter des protestantischen Liberalismus, über das alttestamentliche Hohelied. Beide Texte hatte der mit Brahms eng befreundete Hofkapellmeister Hermann Levi vermittelt. Er hätte sehr gern eine Oper von Brahms dirigiert und zeigte großen Einsatz, ihm zu einem Libretto zu verhelfen. Im Jahre 1873 wählte Brahms Tutzing am Starnberger See zu seinem Sommer-Arbeitsaufenthalt. Dort wollte er nun beginnen, eine Oper zu komponieren. Einen Entwurf für ein Libretto zu einer Oper über den Ritter Bayard hatte er von Paul Heyse erhalten. Er sprach noch mehrmals in München mit dem Schriftsteller und mit Hermann Levi darüber. Aber schließlich widmete er sich in Tutzing einigen anderen Kompositionen und verwarf den Opernplan.

In Heidelberg war er mit der Schriftstellerin Henriette Feuerbach im Gespräch, ob sie ihm einen Operntext schreiben könnte. Henriette Feuerbach hatte ein geräumiges Haus in der Heidelberger Theaterstraße. Dort veranstaltete sie zahlreiche musikalische Salons, bei denen bedeutende Musiker zu Gast waren. Als Brahms im Sommer 1875 in Ziegelhausen weilte, war auch er mehrmals zu Besuch dort. In Feuerbachs Haus waren einige Werke ihres Stiefsohns, des Malers Anselm Feuerbach, ausgestellt. Brahms hielt viel auf seine Kunst und es verband beide eine Freundschaft. In Brahms Nachlaß schließlich fand man einen Operntext von Henriette Feuerbach. Eine Oper von Brahms wurde dennoch nie daraus.

Anselm Feuerbach: Paolo und Francesca (Francesca von Rimini)
Anselm Feuerbach: Henriette Feuerbach

Der aus Österreich stammende, in der Schweiz lebende Schriftsteller Joseph Viktor Widmann gehörte ebenfalls zum Freundeskreis von Brahms. Er hielt sich wiederholt in Heidelberg auf. Er war es, der eine Begebenheit um den legendären Pfarrer Schmezer aus Ziegelhausen, den flottesten Pfarrherr des Jahrhunderts, wie man ihn nannte, dem Schweizer Schriftsteller Conrad Ferdinand Meyer mitteilte, der die Geschichte als Grundlage für seine Novelle Der Schuß von der Kanzel nahm. Schmezer ging übrigens im Brahmsjahr 1875 in den Ruhestand, nachdem er seit 1840 Ziegelhäuser evangelischer Pfarrer war. Auch mit Widmann hatte Brahms über Opernvorhaben gesprochen. 1888 wandte sich Brahms nun endgültig davon ab und schrieb an Widmann, er werde „keine Oper und keine Heirat mehr versuchen“.

Widmann hat den Operntext Der Widerspänstigen Zähmung nach dem gleichnamigen Theaterstück von William Shakespeare geschrieben. Die Musik dazu schuf der Komponist Hermann Götz (1840 Königsberg, Ostpreußen – 1876 Hottingen ZH, Schweiz). Der Mannheimer Hofkapellmeister Ernst Frank und Brahms unterstützten den Komponisten. Uraufführung von Der Widerspänstigen Zähmung war am 11. Oktober 1874 im Nationaltheater Mannheim, in Anwesenheit des Komponisten und des Textdichters. Götz war schwer krank aus der Schweiz angereist und verfolgte die Vorstellung von einer Proszeniumsloge, also einer bühnennahen Loge aus, indem er dort auf einem Sofa liegen konnte. Ernst Frank dirigierte die Oper. Es folgten am 18. 10., 1. 11. und 20. 12. 1874 sowie am 17. 2., 2. 5. und 15. 8. 1875 weitere Aufführungen. Götz, das Nationaltheater und die Sängerin der Titelrolle, die Sopranistin Ottilie Ottiker, feierten große Erfolge mit der Oper. Johannes Brahms besuchte von Ziegelhausen aus die Aufführung am 15. August 1875. Sie dauerte von sechs bis neun Uhr. Brahms war mit dem Zug gefahren.

Der Widerspänstigen Zähmung, Nationaltheater Mannheim 1874


Eine Vorstellung davon, was Brahms zu sehen bekam, gibt eine Fotografie von 1874. Dritte von rechts ist die Sopranistin Ottilie Ottiker in der Rolle der Katharine, erste von links die Sopranistin Ida Auer-Herbeck als Bianca. An der Wand hängen Portraits von Brahms, links, und Ernst Frank.

Johannes Brahms erhielt in Ziegelhausen Besuch von „zwei allerliebsten Sängerinnen aus Mannheim“, nämlich den beiden genannten Opernsängerinen. Ottilie Ottiker und Ida Auer-Herbeck trugen mit Brahms am Klavier in Ziegelhausen und beim Klavierbauer Trau in Heidelberg die in Ziegelhausen frisch komponierten Duette für Sopran und Alt Op. 66 Nr. 3–5 vor.

Liedtexte

Am Strande

Es sprechen und blicken die Wellen
Mit sanfter Stimme,
Mit freundlichem Blick,
Und wiegen die träumende Seele
In ferne Tage zurück.
Aus fernen, verklungenen Tagen
Spricht’s heimlich
Mit sanften Stimmen zu mir.
Schaut’s heimlich
Mit freundlichen Blicken
Zum Wandrer am Strande hier.
Mir ist, als hätten die Stimmen
Die je die Seele
Mir sanft bewegt
Und alle die freundlichen Blicke
Sich in die Wellen gelegt.

Jägerlied

Jäger, was jagst du die Häselein?
Häselein jag’ ich, das muß so sein.
Jäger, was steht dir im Auge dein?
Tränen wohl sind es, das muß so sein.

Jäger, was hast du im Herzelein?
Liebe und Leiden, das muß so sein.
Jäger, wann holst du dein Liebchen heim?
Nimmer, ach nimmer, das muß so sein.

Hüt du dich!

Ich weiß ein Mäd’lein hübsch und fein,
hüt du dich!
Es kann wohl falsch und freundlich sein,
hüt du dich!
Vertrau ihr nicht, sie narret dich!

Sie hat zwei Äuglein, die sind braun,
hüt du dich!
Sie werden dich verliebt anschaun,
hüt du dich!
Vertrau ihr nicht, sie narret dich!

Sie hat ein licht goldfarb’nes Haar,
hüt du dich!
Und was sie red’t, das ist nicht wahr,
hüt du dich!
Vertrau ihr nicht, sie narret dich!

Sie hat zwei Brüstlein, die sind weiß,
hüt du dich!
Sie legt’s hervor mit allem Fleiß,
hüt du dich!
Vetrau ihr nicht, sie narret dich!

Sie gibt dir’n Kränzlein fein gemacht,
hüt du dich!
Für einen Narr’n wirst du gemacht,
hüt du dich!
Vetrau ihr nicht, sie narret dich!


Der Mannheimer Joseph Kinkel, der beide Sängerinnen in zahlreichen Aufführungen erlebt hatte, beschreibt in den Mannheimer Geschichtsblättern 1926 Ottilie Ottiker als liebenswürdige und stimmlich begabte, märchenhafte Sängerin. Sie war eine der Lieblinge der Mannheimer. Bei ihrem Evchen (Meistersinger) bot sie eine poesieumflossene Darstellung. Ida Auer-Herbeck schildert er als reizende, stimmlich und darstellerisch gleich vorzüglich begabte Sängerin.

Ida Auer-Herbeck (16. Februar 1851 Dijon, Frankreich – 16. August 1915 Toronto, Kanada), Sopranistin, war von 1874 bis mindestens 1879 am Nationaltheater Mannheim als Opernsängerin und auch als Bühnenschauspielerin engagiert, wo sie den Theatermaler und späteren Technischen Direktor des Nationaltheaters Oskar Auer (1851-1923) heiratete. Später war sie Hofopernsängerin in München, ab etwa 1888 Gesangslehrerin am Konservatorium in Mannheim, ab September 1897 (1896?) als Hochschullehrerin am Dresdener Königlichen Konservatorium, 1909/10 bis 1913/14 am Stern’schen Konservatorium der Musik in Berlin und ab 1914 an der Kanadischen Musikakademie in Toronto, Kanada. Sie veröffentlichte etwa 1910 in einem Berliner Verlag Gesangsübungen. Aus Rezensionen:

„Die Verfasserin bietet eine zwar etwas unmethodische, aber bei verständiger Anleitung gewiß mit Nutzen verwendbare Sammlung ziemlich schwieriger Übungen zur Erwerbung und Entwickelung der Kehlfertigkeit; sie sucht also eine Seite der Gesangskunst zu fordern, die heutzutage mit Unrecht etwas aus der Mode gekommen ist.“

„Vorliegende, hauptsächlich wohl für Frauenstimmen gedachte Uebungen sind dazu angetan, eine lang empfundene Lücke in der Unterrichtsliteratur auszufüllen. Sie bieten Lehrenden wie Lernenden eine Fülle von Anregungen, die – das gilt besonders von den sehr instruktiven praktischen Beispielen – zu selbständigem Weiterarbeiten ermuntern. Das Büchlein kann aufs wärmste empfohlen werden.“

Anzeige in The Daily Record and The Dresden Daily, Sonntag, 13. Oktober 1907

Ottilie Ottiker (1847 Uster ZH, Schweiz – 16. April 1921 Zürich), Tochter eines Oberrichters, konnte dank Unterstützung durch ihre Eltern eine Gesangsausbildung in Genf und München absolvieren. Sie wirkte 1871 bis 1873 an der Hofoper in München, von 1873 bis zum 1. September 1879 am Mannheimer Nationaltheater. Bei einer Musikalischen Akademie im Theater am 30. Oktober 1873 traten Clara Schumann und Ottilie Ottiker als Solistinnen auf. Die Pianistin spielte unter anderem das Klavierkonzert a-Moll Op. 54 von Robert Schumann. Die Sopranistin interpretierte einige Lieder von Schumann, Brahms und Hauptmann. Ottilie Ottiker übernahm am 13. Februar 1875 in Mannheim bei der Uraufführung des Quartetts für Sopran, Alt, Tenor, Baß und Klavier Nr. 3, Fragen, aus Opus 64 von Brahms den Sopranpart. 1876 waren Johannes Brahms und Ottilie Ottiker im Saalbau in Neustadt an der Weinstraße auf der Bühne.

Am Nationaltheater Mannheim war Ottilie Ottiker als dramatische Sopranistin eine bevorzugte Sängerin:

  • Nach der Hauptrolle in Der Widerspänstigen Zähmung 1874 und 1875 sang sie
  • 1875 die Hauptrolle in der Oper Genoveva von Robert Schumann,
  • vermutlich ebenfalls 1875 die Eva in der Oper Die Meistersinger von Nürnberg von Richard Wagner,
  • 1877 die Hauptrolle in der Oper Franzeska von Rimini von Hermann Götz, Text von Hermann Götz und Joseph Viktor Widmann, Brahms war bei der Uraufführung anwesend,
  • 1878 die Hauptrolle in der Oper Aschenbrödel von Ferdinand Langers und schließlich
  • 1879 in den Opern Rheingold und Walküre von Richard Wagner (aus Der Ring des Nibelungen) die Freia und die Brünnhilde.

Der Mannheimer Hofkapellmeister Ernst Frank widmete ihr seine 12 Lieder, Op. 12, komponiert 1877.

August Knapp und Ottilie Ottiker in Die Meistersinger von Nürnberg, Nationaltheater Mannheim um 1875

Nach ihrer Mannheimer Zeit hatte sie am Stadttheater Köln und am Stadttheater Halle (heute Opernhaus Halle) weiterhin großen Erfolg. In Halle trat sie zum Beispiel 1888 in der Rolle der Senta in der Oper Der Fliegende Holländer von Richard Wagner auf. Von Köln und Halle aus kehrte sie mehrfach zu Gastspielen ans Mannheimer Nationaltheater zurück, um dort bei Der Widerspänstigen Zähmung immer wieder die Hauptrolle zu singen (bis mindestens 1890). Weitere Orte, an denen sie als Sopranistin tätig war, wohl vor allem in Form von Konzerten und Gastspielen, sind – alphabetisch – Berlin, Frankfurt am Main, Hannover, Karlsruhe, München, Rotterdam und in ihrer Heimat Zürich, wo sie zwischen 1877 und 1896 zu Gastspielen auftrat. Es wird erwähnt, daß sie irgendwo als Musikalische Leiterin tätig gewesen sein soll, ohne daß dies bisher durch Recherchen genauer geklärt werden konnte. In den 90er Jahren zog sie sich von der Bühne zurück und wirkte in Zürich als angesehene Gesangspädagogin.

Wie gut sich Ottiker und Brahms nicht nur musikalisch sondern auch freundschaftlich verstanden, zeigt eine Widmung, die die Sängerin dem Komponisten auf eine Portraitkarte von sich schrieb: „Dem liebenswertesten aller Wetterherrgöttle. Zur Erinnerung an den Sommer 1875 und an Ottilie Ottiker.“ Wie Brahms blieb auch sie ungebunden und unverheiratet.

Ottilie Ottiker

Zum Weiterlesen

Harald Pfeiffer, Johannes Brahms in Heidelberg und Ziegelhausen, 2008 (Stadtbücherei und UB HD)

Badische Landesbibliothek (Hrsg.), Johannes Brahms in Baden-Baden und Karlsruhe, Eine Ausstellung der Badischen Landesbibliotek Karlsruhe und der Brahmsgesellschaft Baden-Baden e. V., 1983

Hermann Götz bei Wikipedia

Hermann Goetz und Brahms und weiteres zu Goetz beim Brahm-Institut Lübeck

Bruno Weigl-Brünn, Hermann Gustav Goetz, Zur Erinnerung an seinen 30jährigen Todestag, in: Die Musik, Jahrgang 6, 1. Quartal, Band 21, 1906/1907, S. 217–226; Digitalisat (Permalink) bei Archive.org

Hermann Goetz – Der Widerspänstigen Zähmung bei Musikproduktion Höflich

Der Widerspänstigen Zähmung (Hermann Goetz) bei The Opera Scribe – englisch

Joseph Victor Widmann bei Wikipedia

Henriette Feuerbach bei Wikipedia

Anselm Feuerbach bei Wikipedia

Ernst Frank bei Wikipedia

Christoph Schmezer bei Wikipedia

Pfarrer Schmezer bei Neckarundsteinbach, Ziegelhausen

Julius Allgeyer bei Wikipedia

Hermann Levi bei Wikipedia

Fritz Auer (*1878), Schriftsteller, Sohn von Ida Auer-Herbeck bei Wikipedia

Zum Weiterhören

Hermann Götz, Der Widerspänstigen Zäumung:
Ouvertüre (Youtube, 5:58 Min.)
Die Kraft versagt, Arie der Katharine (Youtube, 6:27 Min.)

    Quellen

    Theaterzettel und weitere Informationen im Marchivum Mannheim

    Ekkehard Schulz, Brahms‘ Karlsruher Freundes- und Bekanntenkreis, in: Badische Landesbibliothek (Hrsg.), Johannes Brahms in Baden-Baden und Karlsruhe, Eine Ausstellung der Badischen Landesbibliotek Karlsruhe und der Brahmsgesellschaft Baden-Baden e. V., 1983, 35–57

    Frithjof Haas, Johannes Brahms und Hermann Levi, ebenda 58-82

    Emma Steiger, Frauenarbeit in Musik, Theater, Tanz, Schaustellungen, Film, Radio, Fernsehen, in: Zürcher statistische Nachrichten 37, 1960, 103-158, 109 u. 122

    Anton Pichler (Großh. Hoftheater-Regisseur), Chronik des Großherzoglichen Hof- und National-Theaters in Mannheim, Zur Feier seines hundertjährigen Bestehens am 7. October 1879, Mannheim 1879

    Musikalien, 206. Ida Auer-Herbeck : Gesangsübungen, in: Die Musik, Jahrgang 9, 4. Quartal, Band 36, 1909-1910, 181f

    Auer-Herbeck, Gesangsübungen, in: Allgemeine Musik-Zeitung, Band 38, 1911, 768

    Joseph Kinkel, Erinnerungen eines Alt⸗Mannheimers aus den 1860er und 1870er Jahren, 7. Das Mannheimer Theater, in: Mannheimer Geschichtsblätter 1926, Spalte 89–95, 93

    Karl-Josef Kutsch, Leo Riemens, Großes Sängerlexikon, Bd. 33

    Antje Kalcher, Dietmar Schenk, Vor der UdK, Die Lehrenden an den Vorgängerinstitutionen der Universität der Künste Berlin – ein Katalog, Schriften aus dem Archiv der UdK Berlin, Band 17, Berlin 2024, 342

    Mannheim und sein Nationaltheater, Menschen – Geschichte(n) – Perspektiven, Mannheim 1998

    The Canadian Academy of Music, in: Musical Canada, Monthly Jorunal of Musical News, Comment and Gossip, for Professionals and Amateurs, Vol. IX, No. 6, Oktober 1914, S. 149

    Neue Musik Zeitung, 37. Jg 1916, S. 45, 123 u. 386 (Tod von Auer-Herbeck)

    Ottiker, Ottilie, in: Bayerisches Musiker-Lexikon Online, Universität München

    Christian Lange, Brahms in Tutzing, Tutzinger Brahmstage (.de)

    Florian Hauser, Egozentrik als Schutzhaltung? (Was heute geschah, 7. Januar 1888), BR Klassik 2022

    Beitrag ergänzt bis 28. August 2025

    Brahms in Ziegelhausen, Neue Musikzeitung 1916

    Der Bericht des Heidelberger und Mannheimer Kapellmeisters Karl Eberts über den Aufenthalt von Johannes Brahms in Ziegelhausen in der Neuen Musikzeitung 37, 1916, S. 30-32, wird viel zitiert. Warum aber soll man nur immer wieder Auszüge daraus aus zweiter Hand lesen. Der Text ist, wenn auch online vorhanden, nur umständlich aufzufinden. Das Urheberrecht ist längst erloschen. Daher stelle ich den Text hier her, damit er im Original und in voller Länge zu lesen ist. Immerhin hat Eberts in Ziegelhausen vor Ort nachgeforscht und konnte noch mit Zeitzeugen sprechen. Außerdem zeigt er das meines Wissens bis heute einzige erhaltene Bild des Brahmshauses.

    Joh. Brahms in Ziegelhausen.

    Von KARL EBERTS (Heidelberg).

    Des Meisters Aufenthalt in Ziegelhausen während der Sommermonate des Jahres 1875, also vor genau vier Jahrzehnten, pflegt im allgemeinen nur episodische Bedeutung beigemessen zu werden. Gewiß, das Wäschedorf am Neckar, der jetzige „Luftkurort“ Ziegelhausen, war kein Kehrreim in der Strophenreihe von Brahmsens Lieblingsplätzen, und nur kurz ist hier und da zu lesen, daß auf seine zweite Wiener Tätigkeit ein Sommer „in der Nähe von Heidelberg” gefolgt ist.

    Ganz selten haben auch Einzelpublikationen auf diese musikalischen Beziehungen Ziegelhausens hingewiesen. Der Straßburger Schriftleiter Schede und der frühere Heidelberger Universitätslehrer Koch benützten sie indes bereits vor Jahren als Feuilletonstoff, und auf den Ausführungen des letzteren ruht im wesentlichen das, was Kalbeck über den Sommer 1875 mitzuteilen weiß. Auch W. A. Thomas-San-Galli spricht sich in seiner 1912 erschienenen Brahms-Biographie sehr umfassend über Ziegelhausen aus, doch ist auffallend, daß sich unter dem überaus reichen Bildschmuck weder dieses, noch des gleichzeitig bei Schuster & Löffler erschienenen Brahms-Werkes eine Aufnahme vom Brahms-Hause am Neckar befindet, obgleich der Meister sich gerade über die Ziegelhäuser Tage stets nur in freudigster Begeisterung vernehmen ließ. Im übrigen glaube ich aus guten Gründen annehmen zu dürfen, daß die Ansicht des Hauses, die in Begleitung dieser Zeilen in der „N. M.-Z.“ erscheint, das erste veröffentlichte Bild des nunmehrigen Jubilars darstellt.

    Wer über die neue Brücke von dem Heidelberger Stadtteil Schlierbach kommend in Ziegelhausen seinen Einzug hält, wird das Haus nur mit einiger Mühe zwischen dem Postamte und der katholischen Kirche im Hintergrund eines Gartens liegend auffinden. Einstmals bildete es den Mittelpunkt und das Herrenhaus eines großen Ziegeleikomplexes, später bewohnte es der Porträtmaler Hanno, bei dem sich Brahms einmietete. In dem großen, fünffenstrigen Frontzimmer fand der von der Heidelberger Pianofortefabrik Gebr. Trau gelieferte Flügel neben den sonstigen, zum Teil noch heute vorhandenen Mobiliarstücken seine Aufstellung; ein kleines Vorzimmer, gleichfalls mit Porträtskizzen aus dem Atelier des Hausherrn geschmückt, diente zum Empfang offizieller Besuche, und mit ihrem nach drei Himmelsrichtungen ungehemmten Blick über den (jetzt leider parzellierten und größtenteils auch bebauten) Garten hinweg in das unermeßliche Grün der Odenwaldbergkette bildete die Wohnung eine „Komponierhöhle“, wie sie so recht für die Neigung des damals 42Jährigen Brahms geschaffen schien. „Ich wohne und lebe allerliebst, letzteres nur gar zu sehr,“ heißt es in einem seiner Briefe, und immer wieder geht vom Neckar aus an die Freunde und Bekannten die Einladung hinaus, ja nach Ziegelhausen zu kommen und diesen Fleck Erde kennen zu lernen.

    Brahms selbst kannte Heidelberg ja von früheren Jahren. Nach Robert Schumanns Beerdigung hatte es als Treffpunkt mit Joachim gedient, Vater Brahms mußte vor einer Schweizer Reise in der Requiemzeit das Heidelberger Schloß besichtigen, und von Baden-Baden und Karlsruhe aus bildete die Musenstadt am Neckar, allwo sich später einmal ein Konzert des Meisters unter für die Veranstalter nicht sehr ehrenvollen Umständen zerschlagen, haben soll, oft die Gelegenheit zu kürzeren Abstechern. Im Jahre 1875 war es Anselm Feuerbach, der Brahms veranlaßte, an den Neckar zu übersiedeln. Die beiden Freunde hatten sich in München getroffen, und alsbald meldete Feuerbach seiner in Heidelberg lebenden Mutter; „Brahms kommt.“ Natürlich ließ sich Brahms nicht in der Stadt festhalten. Die ländliche Stille an der wohlig-weichen Biegung des Neckars bei Ziegelhausen lockte ihn, und wenngleich hier die Geburtsstätte zweier der letzten Quartette (op. 60, c moll, op. 67, B dur), einer Anzahl Duette (op. 66) und Lieder („Abendregen“) gesucht werden muß, wenngleich hier in den Vormittagsstunden, in denen der Meister beim Genusse kleinerer Schlücke von starkem Kaffee emsig arbeitete, wohl noch weitere Skizzen zur ersten Symphonie entstanden sein mögen, jedenfalls übten die ungebundenen, heiteren, an Anregungen aus der Natur und aus Freundeskreisen so reichen Sommertage in ZiegeIhausen ihren erquickendsten Einfluß auch auf den M e n s c h e n Brahms aus, der manche unerfreuliche Erinnerungen an Wien und an den Gegenspieler Herbeck überwinden mußte. Was ich in den Häusern Hanno und Völker, wo Brahms ein regelmäßiger Gast war, über den Meister und sein Wesen in liebenswürdiger Weise mitgeteilt bekam, sind denn auch vorzugsweise Ergänzungen zu dem in seiner aufrechtesten Ehrlichkeit und in seiner rührend schlichten Größe bekannten Kapitel von Brahms dem Menschen und Freunde.

    Hier hört man von dem Interesse, das der Musiker der klavierspielenden Tochter entgegenbringt, nicht ohne auch eindringlich auf die für Frauen nicht minder wichtige Betätigung des Strumpfstrickens hinzuweisen. Neben manchen rührenden Zügen, die wie das wiederholt aus dem Anblick von hauswirtschaftlichen Vorgängen heraus erwachende Gedenken an die Mutter im Völkerschen, jetzt Eggenolfschen Hause in treuer Erinnerung festgehalten werden, treten Episoden von zwingender Heiterkeit. Ursprünglich wollte Brahms in der Pension Völker absteigen. Er besah sich die Zimmer zur großen Freude der Besitzerin, die es sich nicht nehmen ließ, darauf hinzuweisen, eine wie große Ehre es sich die gleichfalls im Hause wohnende Frau Geheimrat X. oder die Frau Sanitätsrat Y. daraus machen würde, mit dein Meister verkehren zu dürfen. Ein gedehntes „So“ war die Antwort des Besuchers, der nun schleunigst den Neckar zwischen sich und die verschiedenen Rätlichkeiten zu bringen für nicht minder rätlich hielt.

    Bei Völker war es auch, wo begeisterte Heidelberger Studenten die Reste einer von Brahms angesetzten Bowle austranken und sich mit einem Gedicht revanchierten, bei dem sich „Musensöhne“ auf „Meister der Töne“ und sonstige eherne Notwendigkeiten zur großen Erheiterung des Komponisten auf das glätteste gereimt haben sollen. Weniger Freude hätten nach der Rückkehr die übrigen Teilnehmer der Bowle empfunden, die inzwischen buchstäblich zur Tinte geworden war.

    Im Hannoschen Hause weiß man noch von den zahlreichen in- und ausländischen Fremden zu berichten, die sich Brahms „ansehen“ wollten und die meist mit einer langsamen und tiefen Verbeugung recht schnell abgetan waren, aber auch von dem Meister willkommenen Besuchern, zu denen die Familie Feuerbach, Herr und Frau Dessof, die Brüder Steinbach, der Verleger N. Simrock, der nach dem alten Fremdenbuch im Hotel Adler abgestiegen war, und der Mannheimer Hofkapellmeister Franck gehörten, der Brahms in Mannheim mit Götzens „Widerspenstiger“ und — mit zwei „allerliebsten“ Sängerinnen des Hoftheaters bekannt machte, in denen man wohl die Patinnen der Ziegelhäuser Duette zu vermuten hat. Diese „Klänge“ dürften bei gemeinsamen Kahnfahrten auf den „mit sanfter Stimme sprechenden und freundlich blickenden Wellen“ des Neckars die erste öffentliche Aufführung vor einer ahnungslosen Zuhörerschaft erlebt haben. Der liebste Besuch erschien Mitte Juli bei Brahms in Ziegelhausen. Es war Klara Schumann, die, wie auch Bertold Litzmann berichtet, auf einer Reise von Kiel nach Klosters im Hannoschen Hause, wo Brahms „ganz im Grünen eingeschlossen, still und sehr ländlich“ wohne, einkehrte. „Mit herzlichem Behagen,“ schreibt sie dann von Klosters, „denke ich an unseren schönen gemeinsamen Nachmittag. Deine Musik hat meine Seele wahrhaft erfrischt. Ueber das Quartett habe ich noch viel gedacht . . .“ Man wird sich hiernach schon vorstellen können, wie willkommen an diesem Tage der in der Nähe Ziegelhausens wohnende Freiherr v. B.1 gewesen sein mag, der just während des gemeinsamen Musizierens Herrn Brahms seine Aufwartung machte.

    Natürlich ist Brahms auch in Ziegelhausen seiner Lieblingsbeschäftigung, in Feld und Wald herumzustreifen, treu geblieben. Das idyllische Bärenbachtal mit seinen geschmeidigen Wiesen und der höher gelegene Tanzplatz waren die Lieblingsziele des Meisters, der manchmal zu seiner Ablenkung auch Dorfjugend mitnahm und sich mit kleinen Geschenken rasch so populär gemacht hatte, daß er sich eines Tages scherzhaft „reif für den Ziegelhäuser Gemeinderat“ nennen konnte. Ein Bild von Brahms jener Tage, das ihn, rechts gescheitelt, mit lang herabhängendem Haare, der geradezu herb gereiften Mundbildung und bartlos, nur mit den Ansätzen eines Schnurrbartes zeigt, hat soeben bei einigen älteren Einwohnern der Gemeinde — freilich ausschließlich Frauen —, denen ich es zeigte, ein freudiges Aufleuchten alter Erinnerungen hervorgerufen. „Ja, das ist der Herr Brahms.“ lachen sie, und die Köchin im Adler, die nach langen Irrfahrten seit einem Monat in diesem, jedem alten Heidelberger Studenten wohlbekannten Gasthofe, dem Tummelplatz ihrer Mädchenjahre, jetzt unter dem aktuellen Namen die „dicke Berta“2 das Kriegsmehl verarbeitet, nützt gerne die Gelegenheit, von den großen Sechseierpfannenkuchen zu erzählen, für die sich Herr Brahms dann auf ihr besonderes Bitten oft mit einem Walzer bedankt hätte. „Und wenn er spielte,“ sagt die Berta, „het mer kei‘ Händ‘ g’sehe . . .“

    In Ziegelhausen selbst ist das Brahms-Haus als solches wenig bekannt. Doch ist es mir gelungen, beim Bürgermeister des Ortes, Herrn Runz, sowie bei dem Vorstande des Verschönerungsvereines, Herrn Hauptlehrer Bahr, einem alten Musikfreunde und selbst ausübendem Musiker, Interesse zu erwecken für die Anbringung einer einfachen G e d e n k t a f e l. Der Plan, dem nach Beendigung des Krieges näher getreten werden soll, könnte inzwischen durch werktätige Mitarbeit in den Reihen der Brahms-Freunde nur gefördert werden.

    1. Franz Jacob Alfred Freiherr von Bernus (1808–1884), wohnte auf Stift Neuburg (Anm. d. Red.) ↩︎
    2. Der Formulierung nach ist wohl „die Dicke Berta“ gemeint, auf Hochdeutsch Berta Dick. Dies wurde vermutlich beim Abdruck des Artikels als vermeintlicher Fehler geändert. (Anm. d. Red.) ↩︎

    150 Jahre Brahms in Ziegelhausen

    Vom 20. Mai bis Mitte September 1875 weilte Johannes Brahms in Ziegelhausen. „Ich wohne und lebe allerliebst, letzteres nur gar zu sehr“ – so wohl fühlte sich Brahms hier bei uns in Ziegelhausen. Bekanntlich wohnte er im Hause des Malers und Kammersängers Anton Hanno und seiner Frau, das der katholischen Laurentiuskirche östlich benachbart stand. Zum 50-jährigen Jubiläum des Aufenthaltes 1925 wurde das Haus – leider nicht zum Museum gestaltet, sondern abgerissen. Die Tochter Hannos hatte noch alle Möbel der Brahmsstube an ihrer Stelle stehen lassen, auch das Tafelklavier war dabei. Leider kam es dann aber zu einem Besitzerwechsel. Das Haus stand weiter zurück als das heutige und davor lag ein schöner, ruhiger Garten mit altem Baumbestand. Dort traf man ihn „hemdärmelig, im leichtesten Gewand, auf einer Lattenbank sitzend, von einem dutzend schöner Tauben umschwärmt“ an.

    Johannes Brahms, etwa 1875

    Johannes Brahms (* 7. Mai 1833 in Hamburg; † 3. April 1897 in Wien) gilt als einer der bedeutendsten deutschen Komponisten. Er ist ein Vertreter der Hochromantik. Ziegelhausen hatte er als Sommeraufenthalt ausgewählt, weil er auf seinen ausgedehnten Waldspaziergängen die besten Ideen für seine Kompositionen hatte. Eltville war auch in der engeren Wahl, aber: „Ich fürchte nur, wo der Wein so gut wird, entbehrt der Mensch des Schattens und erinnere nicht, daß hinter Eltville bald ein Wald sich findet.“ Außerdem war Heidelberg schnell zu erreichen, wo sich im Musiksalon von Henriette Feuerbach viele Künstler trafen und wo der Klavierbauer Johann Baptist Trau Klavierabende veranstaltete. Auch in die Oper im Nationaltheater in Mannheim ging er. In Ziegelhausen besuchten ihn zahlreiche seiner Freunde und Bekannten. „Heute waren Levi [Hofkapellmeister Mannheim, Karlsruhe, München] und Dessoff [Hofkapellmeister Karlsruhe] da, den Abend kommt Frank [Hofkapellmeister Mannheim], morgen zwei allerliebste Sängerinnen aus Mannheim – kurz es wird nur zu lustig gelebt.“ (aus einem Brief)

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    Um die volle Seitenbreite ausnutzen zu können, habe ich den vollständigen Text auf einer Seite angelegt. Hier ist er zu lesen:

    150 Jahre Brahms in Ziegelhausen